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DNA-Analysen von Skeletten in Innsbruck und Stettin

Erster genetischer Beweis für Holocaust-Verbrechen in Ostpolen

Bei Ausgrabungen am Gelände des Vernichtungslagers Sobibór in Polen fanden Archäologen zehn Skelette. DNA-Analysen an der Pommerschen Medizinischen Universität in Stettin sowie am Institut für Gerichtliche Medizin der Med Uni Innsbruck unter der Leitung von Walther Parson erbrachten sehr starke Hinweise, dass es sich bei den Opfern um aschkenasische Juden*1 handelt und damit die erste wissenschaftlich publizierte genetische Evidenz von Holocaust-Opfern in Sobibór

Bild zum Download (c) Karolina Ratajczak
BU: In Grab 12 wurden sechs Skelette entdeckt.

Innsbruck, am 6.8.2021: Bei Feldarbeiten im Bereich des Lagers III, der eigentlichen Todeszone Sobibórs, stießen Archäologen im Jahr 2013 auf Mauerreste, die auf ehemalige Gaskammern hindeuten. Unerwartet entdeckten sie in der Nähe zehn fast vollständig intakte Skelette. Aufgrund archäologischer und historischer Befunde wurden diese menschlichen Überreste ursprünglich polnischen Partisanen zugeschrieben, Opfern des kommunistischen Regimes der 1950er Jahre. Aufgrund von Zeugenaussagen war man bisher davon ausgegangen, dass alle jüdischen Opfer des Zweiten Weltkriegs vor der Auflösung des Lagers Sobibór kremiert worden waren. Genetische Nachweise gab es auch aus diesem Grund bisher nicht. Schätzungen zufolge sind in Sobibór bis zu 250.000 Menschen getötet worden. „Tatsächlich ergaben die genetischen Untersuchungen nun äußerst starke Evidenz, dass die Opfer jüdischer Herkunft waren. Sowohl die mütterlichen, als auch die väterlichen Erblinien finden sich gehäuft in heute lebenden Aschkenasim*1“, sagt Walther Parson, Leiter des Fachbereichs Forensische Genomik am Institut für Gerichtliche Medizin der Medizinischen Universität in Innsbruck und einer der Studienleiter.

„Wir haben von der Lubliner Staatsanwaltschaft den Auftrag erhalten, zur Klärung der Identität der menschlichen Überreste mithilfe moderner forensischer DNA-Technologien beizutragen“, sagt Andrzej Ossowski, Leiter der Abteilung für Forensische Genetik in Stettin und ebenfalls einer der leitenden Autoren. Molekulargenetische Analysen, der aus den stark degradierten menschlichen Überresten extrahierten DNA wurden ab 2017 unabhängig voneinander an der Abteilung für Forensische Genetik der Pommerschen Medizinischen Universität in Stettin, Polen, sowie am Institut für Gerichtliche Medizin in Innsbruck durchgeführt und erbrachten übereinstimmende Ergebnisse. Diese wurden nun im renommierten Fachjournal Genome Biology veröffentlicht. „Das ist ein herausragendes Beispiel interdisziplinärer Forschung innerhalb der Forensik zur Klärung historischer Fälle“, betont Parson.

Molekulargenetische Analysen klären jüdische Herkunft
Die genetischen Untersuchungen umfassten die Sequenzanalyse der mitochondrialen DNA (mtDNA), die nur mütterlicherseits vererbt wird. Deren Vergleiche mit einschlägigen Datenbanken ergaben in neun der zehn Proben vollständige Übereinstimmungen, dafür ausschlaggebend war die umfangreiche Innsbrucker EMPOP-Datenbank*2. Acht der Übereinstimmungen bezogen sich auf Individuen aschkenasischer Herkunft. In einigen Fällen wurden Übereinstimmungen mit mtDNA-Sequenzen beobachtet, die in modernen Aschkenasim sehr häufig, in der allgemeinen Bevölkerung aber selten oder unbeobachtet sind. „Die mitochondrialen DNA-Übereinstimmungen sind in diesem Fall von besonderer Bedeutung, da die mütterliche Abstammung in den meisten Bewegungen des Judentums als relevant angesehen wird", sagt Marta Diepenbroek, Erstautorin und derzeit am Institut für Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig.

In Innsbruck wurden darüber hinaus väterlich vererbte Y-chromosomale DNA-Marker analysiert und ergaben Y-Linien, die bei aschkenasischen Juden häufiger vorkommen als in der Allgemeinbevölkerung. Insbesondere vier der untersuchten Überreste gehören der Linie J-P58 an, die in Europa fast ausschließlich in Aschkenasim beobachtet wird. Zudem ist diese Linie in der jüdischen Priesterschaft Cohanim weit verbreitet. Die Analyse der Daten aus den Überresten ergab vollständige oder sehr enge Übereinstimmungen mit dem Cohen Modal Haplotyp, jener männlichen Erblinie, die innerhalb der jüdischen Cohanim geteilt wird. „Unter den in dieser Studie gesammelten Befunden war die DNA eindeutig das stärkste Mittel, um zur Klärung der Herkunft der Personen beizutragen“, sagt Diepenbroek.

Bereits zuvor waren die Skelettfunde anthropologisch untersucht und männlichen Individuen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren zugeordnet worden. Fünf Individuen wiesen Schussspuren auf, vier davon Kopfschüsse, wie sie nach Hinrichtungen bekannt sind. In der näheren Umgebung wurden zudem Artefakte – u.a. Patronenhülsen und persönliche Gegenstände der Opfer – sichergestellt, die zur Interpretation des Gesamtbildes beitrugen.

Die AutorInnen der interdisziplinären Studie kommen zu dem Schluss, dass die genetischen Ergebnisse in Kombination mit den nicht-genetischen Befunden auf eine jüdische Herkunft der Opfer stark hindeuten und nicht auf die ursprünglich vermutete, nicht-aschkenasische Abstammung der Partisanen. Angesichts der Ergebnisse wurden die menschlichen Überreste in Anwesenheit eines Rabbiners und nach jüdischem Ritus am Ort ihrer Entdeckung wieder bestattet.

*1 aschkenasische Juden, Aschkenasim: nord-, mittel- und osteuropäische Juden
*2 EMPOP-Datenbank: Mit derzeit 48.572 Einträgen ist die in Innsbruck angesiedelte EMPOP-Datenbank die weltweit größte, forensische Datenbank für mitochondriale DNA (mtDNA) und die einzige, die den Anforderungen der Forensik genügt. Initiator und wissenschaftlicher Leiter ist Walther Parson.

Bild zum Download (c) GMI


Steckbrief:
Walther Parson hat in Innsbruck Molekularbiologie studiert und ist seit 1994 am Institut für Gerichtliche Medizin (Direktor: Richard Scheithauer) tätig. Als Leiter des Fachbereichs Forensische Genomik war er federführend an der Aufklärung einer Vielzahl von Fällen mit internationaler Beachtung beteiligt, wie z.B. der Untersuchung der russischen Zarenfamilie Romanow (2009) oder der Identifikation der Tsunami-Opfer (2004).

Forschungsarbeit:
Genetic and phylogeographic evidence for Jewish Holocaust victims at the Sobibór death camp
https://doi.org/10.1186/s13059-021-02420-0

 

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