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Gemeinsame Presseinformation tirol kliniken und Medizinische Universität Innsbruck

Transidente Kinder und Jugendliche – wenn sich das Ich anders anfühlt als der Körper es vorgibt

Sobald ein Baby geboren ist, wird üblicherweise binnen kurzer Zeit eine Entscheidung getroffen: Entweder ist das Kind männlich oder weiblich. Das Leben zeigt, dass diese Zuordnung nach den äußeren Geschlechtsorganen nicht immer richtig ist. Die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Landeskrankenhaus (LKH) Hall ist für Betroffene und ihre Angehörigen oft die erste Anlaufstelle.

Innsbruck/Hall, 30.06.2020: Die vierjährige Tochter möchte unbedingt eine Kurzhaarfrisur und am liebsten die Kleidung des Bruders anziehen. Der fünfjährige Sohn möchte sich schminken und probiert die Stöckelschuhe der Mutter an. Die meisten Eltern kennen ähnliche Situationen von ihren Kleinkindern. Kinder ab drei Jahren entwickeln bereits ein Gefühl für die eigene Geschlechtsidentität. Dieses Gefühl muss nicht automatisch mit den tatsächlichen Geschlechtsmerkmalen des Körpers übereinstimmen. „Bei den allermeisten Kindern prägt sich allerdings bis zur Pubertät eine zum Körper passende Geschlechtsidentität aus, Unsicherheiten verschwinden im Verlauf“, so Martin Fuchs, Oberarzt an der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hall.

In einigen Fällen bleibt das Gefühl, „nicht im richtigen Körper“ zu sein. Diese Kinder und Jugendlichen leiden unter ihren nicht stimmigen Geschlechtsmerkmalen. Vor allem ab der Pubertät werden sie massiv damit konfrontiert, dass ihre körperliche Entwicklung nicht zu ihrem Empfinden passt. „Dies kann bei Betroffenen unter anderem zu starken Schamgefühlen, sozialem Rückzug, Depressionen, autoaggressivem Verhalten gegen den eigenen Körper und sogar zu Suizidgedanken führen. Deshalb ist es wichtig, dass Kinder und Jugendliche, die so empfinden, Hilfe in Anspruch nehmen“, betont Martin Fuchs. Seit Eröffnung der Spezialambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie gab es rund 100 Erstgespräche mit Betroffenen.

Bei jüngeren Kindern geht es in erster Linie darum, Eltern und Betroffene ausführlich zu informieren und die Gesamtentwicklung in regelmäßigen Abständen zu beobachten. „In manchen Fällen wird z. B. auch die Schule in die Beratung eingeschlossen“, so Fuchs. In diesem frühen Stadium wird betroffenen Familien primär geholfen, ein gutes Gleichgewicht und eine entspannte Grundhaltung zu finden. „Man sollte Kindern nicht vermitteln, dass ihre Gefühle ‚falsch‘ sind. Andererseits ist es wichtig zu wissen, dass sich diese kindlichen Empfindungen der Unsicherheit in den meisten Fällen wieder legen.“

Nimmt der Leidensdruck zu und bleibt das Gefühl, sich im falschen Körper zu befinden, über einen längeren Zeitraum, koordiniert die Kinder- und Jugendpsychiatrie eine umfassende Abklärung. Dazu ist zum einen eine körperliche Untersuchung der Betroffenen notwendig. Diese erfolgt in Kooperation mit der Kinderklinik bzw. der Univ.-Klinik für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin in Innsbruck.

„Bei uns an der Kinder- und Jugendpsychiatrie kümmern wir uns um die psychodiagnostische Abklärung. Dabei verwenden wir eine umfangreiche Diagnostikbatterie, die wir in Zusammenarbeit mit einer deutschen Spezialambulanz in Hamburg auswerten. Somit können wir unsere erhobenen klinischen Parameter auch für die Forschung verwenden und beleuchten im Rahmen dieser Forschungskooperation zahlreiche spannende wissenschaftliche Fragestellungen“, erklärt Fuchs.
Parallel zur Abklärung erfolgt zunächst eine rein psychotherapeutische Behandlung. Die Inhalte aller erhobenen Befunde fließen in eine Stellungnahme ein, die in Zusammenarbeit mit Betroffenen und ihren Familien den weiteren Behandlungsplan festlegt. Das weitere Vorgehen ist durch österreichische aber auch internationale Leitlinien geregelt.

Liegt tatsächlich eine Transidentität vor, können ab der Pubertät sogenannte „Hormonblocker“ eingesetzt werden. Diese verhindern die Ausschüttung von körpereigenen Geschlechtshormonen und stoppen damit die Weiterentwicklung des Körpers in die gefühlt falsche Richtung. „Betroffene berichten uns oft, dass sie durch die Hormonblocker erstmals eine große Entlastung erfahren. Diese Behandlung kann allerdings nur eine gewisse Zeit erfolgen. Nach ein bis zwei Jahren muss erneut entschieden werden, wie es weitergeht“, so Klaus Kapelari, leitender Oberarzt an der Innsbrucker Kinderklinik.

In diesem Stadium gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann die Hormonblocker absetzen und die Weiterentwicklung des Körpers mit körpereigenen Hormonen wieder zulassen oder durch die Einnahme von gegengeschlechtlichen Hormonen den Körper langsam in das andere Geschlecht verwandeln. Fast alle PatientInnen entscheiden sich für den Prozess der Umwandlung. „Konkret heißt das für die Betroffenen, dass sich ihr Körper erstmals ihren Empfindungen entsprechend entwickelt. Es passiert so etwas wie eine zweite ‚richtige‘ Pubertät. Stimmen Körpergefühl und Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale endlich überein, bringt das vielen eine weitere große Erleichterung“, erklärt Katharina Feil, Oberärztin an der Innsbrucker Univ.-Klinik für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin. Die einzige operative Behandlung, die rechtlich vor dem 18. Lebensjahr vorgenommen werden darf, ist die Mastektomie, die Entfernung der weiblichen Brust.

Junge Menschen, die diese Schritte durchlaufen, werden immer interdisziplinär von einem Team der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Gynäkologischen Endokrinologie und der Kinderklinik betreut. Bei jeder Therapie vor Vollendung des 18. Lebensjahres müssen die gesetzlichen Vertreter ihre Zustimmung geben.

 

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