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Medizinische Genetik als ärztliches Fach

Linktipp: Interview der Tiroler Tageszeitung zum Berufsbild „Fachärztin/-arzt für Medizinische Genetik" (Quelle: Tiroler Tageszeitung, 22.11.2020)

Die Medizinische Genetik beschäftigt sich mit der Anwendung der Humangenetik im medizinischen Bereich. Sie unterscheidet sich von anderen ärztlichen Fächern dadurch, dass sie sich nicht durch Konzentration auf ein bestimmtes Organsystem, Lebensalter oder Geschlecht definiert, sondern pathogenetisch über spezifische Faktoren der Krankheitsentstehung. Dies bringt mit sich eine besondere Betonung der Interdisziplinarität, der Vernetzung innerhalb der gesamten Medizin. Medizinische Genetiker sind quasi Fachärzte für Seltene Krankheiten.

Im Gegensatz zu labormedizinischen Fächern hat die Medizinische Genetik »eigene Patienten«, bzw. »eigene Krankheiten«, die primär von klinischen Genetikern diagnostiziert und ggf. betreut werden. Die Medizinische Genetik ist ein klinisches Fach mit eigenen Sprechstunden bzw. Ambulanzen sowie umfangreicher Konsiltätigkeit, und bildet gleichzeitig eine Brücke zum molekularen Verständnis von Krankheit und Gesundheit – gleichermaßen für Ärzte und Patientenfamilien.

Die Medizinische Genetik hat 4 wichtige Funktionen innerhalb der Medizin:

    • Diagnose genetischer Krankheiten mittels ausführlicher Anamnese, gründlicher klinischer Untersuchung und häufig aufwändiger genetischer Labordiagnostik
    • Langfristige Betreuung und Koordination des interdisziplinären Managements bei Personen mit genetischen Krankheiten
    • Vermittlung von Informationen an betroffene Personen im Rahmen der genetischen Beratung sowie Hilfe beim Umgang mit den Schwierigkeiten, die sich aus einer genetischen Diagnose ergeben können
    • Humangenetische Grundlagenforschung zur Identifizierung der molekularen Grundlagen genetischer Krankheiten und Krankheitsdispositionen

Die klinische Diagnose von z. T. sehr seltenen genetischen Krankheiten durch Anamnese, Familienanamnese, körperliche Untersuchung und Synopse spezialisierter Untersuchungsbefunde ist die ärztliche »Kernkompetenz« des klinischen Genetikers. Sie ist besonders wichtig bei Vorliegen von ungewöhnlichen körperlichen Merkmalen (Dysmorphien) mit oder ohne Entwicklungsstörungen, aber auch bei ungewöhnlichen Kombinationen von Symptomen und Befunden in unterschiedlichen Organsystemen. Dabei steht nicht nur der individuelle Patient, sondern immer dessen ganze Familie im Mittelpunkt des Interesses. Das Erfassen der relevanten Besonderheiten (die strukturierte Familienanamnese) ist bei der klinischen Evaluation von entscheidender Bedeutung und ist ein erster, wichtiger diagnostischer Schritt bei der Klärung der Frage, ob eine Krankheit eine genetische Komponente hat, oder nicht. Komplettiert wird die Diagnostik durch spezialisierte Laboruntersuchungen, die z. T. technisch einfach erscheinen, deren korrekte Interpretation und Bewertung jedoch eine große Erfahrung benötigt. Auch wenn sich bei vielen genetischen Krankheiten keine effektiven therapeutischen Optionen ergeben, ist es für viele Betroffene und ihre Angehörigen oft eine große Beruhigung, wenigstens »richtig diagnostiziert« zu sein. Angesichts der meist schicksalshaften Ursache der Krankheit ist dies oft auch ein wichtiger Schritt im »Heilungsprozess« für die betroffenen Familien, der auch die Vernetzung mit anderen Betroffenen in einer spezifischen Selbsthilfegruppe ermöglicht. Schließlich ist die korrekte Diagnose auch eine Grundvoraussetzung für die Abschätzung von Wiederholungswahrscheinlichkeiten bzw. für etwaige präventive Maßnahmen – für den Patienten selbst und ggf. für weitere Familienmitglieder. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an die erblichen Tumordispositionen.

Die wichtigste »therapeutische« Aufgabe, die langfristige Betreuung und die Koordination des interdisziplinären Managements bei Personen mit genetischen Krankheiten, gewinnt auch in Tirol und Österreich zunehmend an Bedeutung. Viele medizinisch-genetische Patienten sind »interdisziplinäre Patienten«, bei denen verschiedene Organsysteme betroffen sind und die von Ärzten verschiedenster Fachrichtungen behandelt werden müssen; sie haben oft chronische gesundheitliche Probleme, die über verschiedene Lebensphasen betreut werden müssen und ggf. sind mehrere Angehörige einer Familie betroffen. Hier übernimmt die Medizinische Genetik zunehmend Aufgaben, beispielsweise bereits jetzt in den Betreuungskonzepten bei familiären Krebserkrankungen.

Die eigentliche medizinisch-genetische Beratung ist die dritte wichtige Funktion der Medizinischen Genetik. Sie bedeutet in besonderem Maße immer auch sprechende Medizin, die ausführliche und kompetente Beratung des Betroffenen und seiner Familie. Wie wird die jeweilige Krankheit vererbt? Welche Bedeutung haben die genetischen Befunde für die Betroffenen und ihre Verwandten? Wie hoch ist das Wiederholungsrisiko im Falle zukünftiger Schwangerschaften? Und wie geht man mit dem Wissen um genetische Veränderungen und Varianten um? Dies alles sind Fragen, die für die Betroffenen und ihre Familien von existenzieller Bedeutung sein können, die Lebenskonzepte verändern können, und die eine fundierte, fachgerechte, aber immer auch einfühlsame und individualisierte Beratung erfordern. Hinzu kommen bei genetischen Krankheiten manchmal auch heute noch Selbstvorwürfe, etwas »falsch gemacht« zu haben. Auch wenn Schuldgefühle im Zusammenhang mit genetischen Krankheiten objektiv völlig fehl am Platz sind, sind sie doch für die, bei denen sie auftreten, eine stark belastende subjektive Realität. Der umgangssprachlich gehaltene, persönliche Beratungsbrief, den alle »Ratsuchenden« als Zusammenfassung des Beratungsgesprächs erhalten, ist ein wichtiges Referenzdokument, das auch noch viel später zu Rate gezogen werden kann.

Die humangenetische Grundlagenforschung schließlich ergibt sich direkt aus der pathogenetisch-diagnostischen Ausrichtung des Faches. Die Medizinische Genetik ist nicht nur ein Brückenfach zwischen den ärztlichen Disziplinen sondern auch zwischen der klinischen Medizin und den naturwissenschaftlichen Grundlagenfächern. Neue diagnostische Methoden führen täglich zur Klärung der molekularen Grundlagen spezieller Phänotypen, zum Nachweis „neuer“ Krankheiten, und zur Identifikation von biologischen Risikofaktoren für häufige Leiden. Unser Wissen über pathogenetische Mechanismen nimmt in allen Bereichen der Medizin in atemberaubenden Tempo zu, nicht selten mit unmittelbaren Konsequenzen für eine verbesserte Diagnostik, Therapie oder Prävention. Hier gerade im Bereich der interdisziplinären Forschung den Überblick zu behalten und wissenschaftliche Impulse zu geben, ist auch eine Aufgabe der Medizinische Genetik.